Montag, 2. November 2015

perigoso (2)


Nochmal zum Thema Gewalt und Kriminalität. Das kann man hier, wenn man in die Zeitungen schaut, mal im TV hin und her zappt bzw. wie ich einfach viel in der Stadt unterwegs ist, einfach nicht ausblenden. 

Salvador ist eine Gewaltoase. Leider ist das die Realität.

Ich hatte heute Abend im Wohnzimmer mit meiner "Gastmutter" Elia ein gutes Gespräch und habe sie als Bahiana gefragt, ob sie mir eine Sache hier in Salvador sagen kann, die ihr gar nicht gefällt. Mit ihrem Mann Robert(o) habe ich schon oft auch über Sachen hier in der Stadt gesprochen, die man sehr kritisch sehen kann. Er als "estrangeiro" (er ist Amerikaner, lebt seit 10 Jahren hier) hat natürlich noch einen ganz anderen Blick auf alles als jemand, der hier geboren ist wie Elia. Auf jeden Fall sagte sie mir direkt auf meine Frage: "Die Gewalt". 

Ich habe ja schon anklingen lassen, dass ich mich wirklich viel mit diesem Thema vor meiner Reise beschäftigt habe und viele viele Erfahrungsberichte und Schilderungen in Büchern und Reiseführern, Foren und Blogs dazu gelesen habe. Auch habe ich schon geschrieben in einem früheren Post, dass ich denke, dass man zwar immer sehr vorsichtig sein muss, aber auch aufpassen sollte, dass man durch die eigene Paranoia sich nicht verschließt vor der Schönheit der Stadt. Um dieses ganze Thema aber noch ein wenig weiter zu veranschaulichen:

Brasilien, so hat es mir hier ein Einheimischer erzählt, ist ein Land, das einen riesigen Wirtschaftszweig hat, der auf Paranoia, Angst und Verbarrikadierung setzt. 100.000e von Menschen im ganzen Land leben von dem Bedürfnis der Menschen hier, sich möglichst sicher zu fühlen, leben von der Angst der Menschen. Und mit diesen Beschäftigten meine ich nicht die Polizei, sondern all die privaten Sicherheitsleute in den Wohnanlagen, all die Produzenten von Begleitschutz, Wachposten etc. Brasilianer sind so offene Menschen, so habe ich es hier besonders in Salvador kennengelernt. Gleichzeitig haben sie das Bedürfnis sich abzuschotten, sich zu schützen... so gut es geht und so teuer sie es sich leisten können. 

Wie könnt ihr euch das vorstellen, was ich damit meine?

Ein kleines Beispiel: Nun, es ist für mich, wo ich jetzt 6 Wochen in Salvador bin, schon zu einer absoluten Normalität geworden, dass es hier NUR und AUSSCHlIEßLICH Fenster in den Häusern in den ersten 3 oder gleich in allen Stockwerken gibt, die ein Gitter haben. Und das hat natürlich gute Gründe, nein eigentlich natürlich sehr schlechte. ALLE Häuser und Wohnungen, die ich zur Mittelschicht zählen würde, sind eingezäunt, ALLE. Man kann sagen, dass es in der Stadt 3 verschiedene Wohnverhältnisse bzw. Arten gibt:

- Baracken/Hütten in Comunidades / "Favelas" auf den Hügeln (Morros) der Stadt und in den Vororten: Es ist unglaublich, welches Ausmaß diese Siedlungen einnehmen. Und vor allem wie viele es sind. Es ist als ob die ganze Stadt mit ihnen "verziert" ist. Dazu kommen noch die Vororte, riesige Siedlungen auf platten Land, kilometerlange Schlamm-Löcher-Straßen mit einfachsten Behausungen.
Salvador ist die Stadt in Brasilien, in der die meisten Menschen in unsichereren Wohnverhältnissen, d.h. in Baracken und Hütten aus Stein leben. Eben jene Hütten und kleinen Miniwohnungen, die man mit dem Begriff "Favela" assoziiert. [Dazu bitte mein Posting von Ende September lesen!]. Hier wird der Begriff Favela zwar nicht immer im gleichen Kontext gebraucht wie in Rio, aber - das habe ich durch viele Gespräche über das Thema mit Einheimischen verstanden - die Wohnverhältnisse an sich und die Situation der Menschen gleichen genau dem, was man mit diesem Begriff verbindet und im Kopf an Bildern mit sich trägt. 
Es ist schlicht Wahnsinn, wie groß diese Siedlungen sind... nicht nur die auf den Hügeln, sondern vor allem die in den Vorstädten, die ich auf meiner Reise mit der Trem bzw. mit dem Omnibus gesehen habe.

Die Stadtteile von Salvador sind insgesamt sehr unterschiedlich. Der Pelorinho und die angrenzenden Bezirke bestehen überwiegend aus alten, bis zu 300 Jahre alten Häusern. In Itapuan findet man gepflegte Häuser mit großen Gärten, in Barra stehen Hochhäuser mit teuren Apartements an der Bucht und viele Stadtteile bestehen aus einem durcheinander aus kleinen Häuschen, besonders in den Invasionen =  also Gebiete, wo arme Leute ohne Genehmigung gebaut haben. Dabei stehen 1500 Gebäude im historischen Zentrum leer. Ja, das klingt irrwitzig, aber ich habe mir das selbst angeschaut. Die Häuser sind teilweise seit Jahren verriegelt. Komplett ohne sozialen Nutzen. Manche werden lieber als Parkanlagen für Autos genutzt statt sie wieder wohnbar zu machen. Und das alles in bester Lage im früheren Handels- und Finanzzentrum der Stadt. Schlicht Wahnsinn.

- "normale" Apartements in großen Hochhäusern / Wohngebäuden: Das ist meine Wohnsituation in meiner Gastfamilie. Ein großes Hochhaus, was eingezäunt ist und (zumeist) eigene Sicherheitsleute bzw. "Porteiros" hat. Sie schließen für einen auf und zu und checken die Lage, dass keine unbekannten Leute hereinkommen bzw. seltsame Sachen geschehen. Immer einen Blick auf die Straße. Nachdem ich vorgestellt wurde an meinem ersten Abend kannten sie mein Gesicht. So ist das immer. Nach einem Mal kennen sie dein Gesicht. 

- Condomínos: Komplett verschlossene, riesige Wohnanlagen mit eigener Infrastruktur, komplett abgeriegelt, wie eine kleine Stadt in der Stadt. Hier im Stadtteil Victória stehen die teuersten dieser Wohnungen und Hochhaus-Anlagen. Ich gehe manchmal die Straße des 7. September von Barra entlang zu einem meiner Lieblingsplätze, dem Campo Grande Stadtpark. Es ist schon beeindruckend, an diesen riesen Türmen der reichen Oberschicht entlang zu gehen, nach oben zu schauen und sich zu denken: "Wow, von da die Aussicht auf die Buch..." dagegen ist mein 6. Stock in Osnabrück nichts. Trotzdem möchte ich nicht so abgeschirmt leben. Aber gut, die Menschen hier kennen es nicht anders.

Keine Gesellschaft kann frei sein, wenn die Gewalt an der Tagesordnung steht. Was hilft den reichen Schichten das ganze Geld der Welt, wenn man wie ein Vogel im goldenen Käfig leben muss?

Ich bin wirklich manchmal sehr erschrocken, wenn ich in der Zeitung, im Netz oder im Fernsehen mitbekomme, was alles neben der ganzen Morden und Drogenkriegen in den Vorort-Favelas auch an den belebten und großen Plätzen der Stadt alles passiert an schrecklichen Verbrechen. Und an so vielen dieser Plätze bin ich quasi die letzten Wochen ein und ausgegangen. In einem der ersten Postings über Salvador hatte ich ja ein paar Statistiken gepostet, was die Gewaltverbrechen in der Stadt angeht. Nach 6 Wochen und vielen Eindrücken hier wundert mich diese weltweit hohe Platzierung Salvadors bei den Mordraten unter den 20 gewalttätigsten Städte der Erde nicht mehr so wirklich ... was man hier alles so an einem normalen Tag in den Nachrichtenportalen liest. 

Ganz ehrlich, ich habe mir die Brutalität dieser Gewaltexzesse nie so krass vorgestellt. Gur, das kann daran liegen, dass ich kein Krimi und Gewalt-Kino Fan bin ... aber es berührt mich schon sehr, wenn ich hier die Nachrichten verfolge. Dazu kommt, dass hier viel "mehr" an Details gezeigt und beschrieben werden...das ist dann manchmal echt zu viel für mich an gezeigter Brutalität und purer Gewalt. Unmenschiche Szenen. 20 Morde an einem Wochenende sind keine Seltenheit, Jugendliche werden in den Vororten erschossen, man liest über Lnychmorde in den Favelas, Überfälle auf Banken, Omnibusse und Geschäfte sind an der Tagesordnung... von den normalen Diebstählen und  ganz zu schweigen.

Es gibt viele Theorien und Ansätze, die die ansteigende Gewalt hier in den letzten 5 Jahren damit erklären wollen, dass sich die Situation deswegen verschlechtert hat, weil die Polizei aufgrund der WM und Olympia die Favelas in Rio räumte. Viele der kriminellen Bandenmitglieder seien daraufhin nach Salvador geflüchtet, denn festgenommen wurden die wenigsten. An der Theorie kann was dran sein. Alles ist möglich, denn Gewaltexzesse haben hier in Salvador die letzten Jahre stark zugenommen. Rio de Janeiro wird jetzt mit allen Mitteln gesichert bis zur WM 2014 und Olympia 2016. Danach weiss der Himmel, was passiert...

Ja, es ist eine Sache darüber zu lesen ... eine andere ist es mit diesem Wissen durch die Straßen zu laufen. Hier in Barra fühle ich mich eigentlich schon sicher, wenn ich durch die Straßen gehe, auch etwas später am Abend. Aber alleine nachts hier durch die Nebenstraßen ziehe ich auch nicht. Und wenn es etwas später wird, dann versuche ich wirklich vorsichtig zu sein, wechsel manchmal die Straße Wie schon beschrieben, 2 Mädchen aus meiner Sprachschule wurden hier schon nachts auf dem Rückweg von der Bushaltestelle nach Hause überfallen. Viele Leute sagen, dass Barra hier schon gefährliche Ecken hat, dadurch dass hier viele durchaus wohlhabendere Leute wohnen und es viele Hotels an den Stränden gibt. Was das reine "Gefühl der Sicherheit" betrifft, nehme ich das bisher anders wahr. Das kann aber auch damit zusammenhängen, dass ich das Viertel hier nach 6 Wochen jetzt wirklich schon sehr gut kenne, eigentlich fast jede Straße im Umkreis schon mal abgegangen bin... das ist immer die Sache: Da wo man sich auskennt, da fühlt man sich sicher.

Bisher hatte ich eigentlich nur eine etwas merkwürdige Situation abseits des ganz normalen Pelourinho-Wahnsinns an den Ladeiras (inklusive Lockversuche von den dort ansässigen Straßenjungs). RED FLAGS RED FLAGS RED FLAGS!
Ich war abends um 18.00 als es gerade dunkel war, im Bezirik Rio Vermelho auf einer sehr breiten Straße zu Fuß unterwegs. In der Mitte zwischen den Spuren ist ein große Grünfläche, die viele Leute für Sport nutzen oder um dort wie ich spazieren zu gehen. Die Straße war auf beiden Seiten sehr stark von Autos frequentiert. Im Laufe meines Weges kamen mir wohl 100e Leute entgegen, alles soweit ganz normal. Bis mich irgendwann so ein Surfer-Typ auf mein Mobiltelefon ansprach. Ich weiss nicht genau was er gesagt hat, konnte es nicht verstehen, bin gleich ein paar Meter zur Seite, weil mir die Situation komisch vorkam. Ich dachte so: Der wird dich doch nicht an dieser befahrenen Stelle hier abziehen wollen ...hab ihm auf Portugiesisch gesagt, dass ich nicht verstehe was er von mir wolle und dass ich Angst habe. Besser lieber die Wahrheit sagen. Wenn er in dem Moment eine Andeutung gemacht hätte, dass die Situation Ernst ist (dazu hätte er nicht mal ein Messer zücken müssen, das hätte ich an seinem Gesichtsausdruck sehen können), hätte ich natürlich sofort meine Taschen geleert und ihm alles an Geld entgegengestreckt. Aber der Typ deutete an, dass ich die Situation wohl falsch verstanden habe oder er ist "eingeknickt", weil ich nicht auf seinen "Celular Trick" ("Lass mich mal kurz auf dein Handy gucken, wie spät es ist") reingefallen bin. War irgendwie komisch, er hat mir noch 1, 2 Sätze gesagt dass ich keine Angst haben brauche, dass er nur etwas fragen wollte und dass ich die Situation falsch verstanden habe So wie es rüberkam habe ich es ihm in dem Moment sogar abgenommen... Denn wenn er was von mir hätte wegnehmen wollen, hätte er das in jedem Moment tun können, so wie man das überall erleben kann. Denn Widerstand leisten sollte man NIEMALS. Das kann ganz ganz schnell ziemlich schief laufen. Weiß auch nicht. Irgendwie tat es mir sogar etwas leid, dass ich gleich so eine negative Denkweise hatte, dass der sonstwas von mir wollte. Vielleicht wollte er wirklich irgendwie eine Frage loswerden, aber dann frage ich mich warum er von meinem Mobiltelefon gesprochen hat. Ich hab das hier in meiner Gastfamilie erzählt und die meinten dann, dass es durchaus so gewesen sein könnte, dass er (auch unbewaffnet) einfach nen Trick-Diebstahl durch Vertrauen auf Unaufmerksamkeit, durchführen wollte. Hey, pass mal ne Sekunde nicht auf, schon hab ich dein Telefon und bin schon 20 Meter weiter bis du das gecheckt hast. Also lieber weiter skeptisch bleiben. Seltsame Situation, aber im Endeffekt zum Glück harmlos.

Ansonsten bin ich natürlich nicht alleine in die Favelas und in die Vorstädte gegangen. Die Haushälterin hier in meiner Familie war schon ziemlich entsetzt, dass ich mich einfach in einen Omnibus gesetzt habe um mit diesem bis zu den Vororten zu fahren. Aussteigen wollte ich eh nicht, aber das allein reichte schon um sie aus der Bahn zu bringen. Zwar erzählt einem jeder hier etwas anderes, was man tun kann und was nicht ... aber alleine ohne einen Einheimischen, einfach nur um sich da in den Baracken-Siedlungen "umzugucken", das wäre das Dümmste was machen machen kann. Die kleine Comunidade am Meerjungfrau-Hügel, die ich besucht habe, ist da  aus verschiedenen Gründen eine andere Sache und selbst da war ich sehr vorsichtig. 
Ansonsten war immer mit einem Bekannten, der sich in der Gegend auskennt, in Gebieten und Ecken, die weit abseits liegen und allgemein keine große Anziehung für Nicht-Einheimische besitzen. Mich interessieren sie aber. Dennoch: Es ist wie gesagt sehr schwer zu unterscheiden: Wo kann man relativ sicher hingehen und um welche Ecken und Stadtviertel sollte man lieber einen Bogen machen. Wenn man hier nicht geboren und aufgewachsen ist, dann ist das eine unmögliche Aufgabe. 

Aber alleine in die Vorstädte und Problemviertel, in diese riesen Siedlungen gehen um sich an der ersten Ecke ausrauben zu lassen? Gar keine gute Idee... denn was man hier durch die Medien mitbekommt an unmenschlichen Gewalt-Exzessen, das ist schon heftig und macht mich nachdenklich. Okay, die schweren Jungs da, die hätten an mir eh kein Interesse, aber sicherlich die 14 jährigen Kids, die ihre ersten Gang-Erfahrungen ausleben wollen. Da machste dann nix. Aber: So etwas kann einem überall passieren. Der Mitbewohnerin einer meiner Mitschülerinnen wurde hier in der Straße, wo ich lebe (im wie gesagt für Salvador-Verhältnisse recht wohlhabenden Stadtteil) vor ihrer Haus eine Knarre an den Kopf gehalten mit der Aufforderung ihr Mobiltelefon herauszurücken. Und wenn am Strand eine Gruppe Straßenkinder mit 20 Leuten auf dich zuläuft, dann kannst du auch nichts machen. Ja und auch in der Bankfiliale hier um die Ecke, wo ich mein Geld abhebe, wurden schon Leute überfallen... und im Shopping Center... und am Strand. Machste nix. Nur damit leben und irgendwie umgehen.

Das ist eben auch Brasilien bzw. ganz besonders der Nordosten hier. So etwas gehört hier einfach zum Alltag. Man sollte vorsichtig sein, sich aber auch nicht verrückt machen lassen und sich nur noch "abschotten" und hinter jeder Ecke eine Gefahr für Leib und Leben wittern. Hier in Barra fühle ich mich relativ sicher und was Salvador insgesamt betrifft, so habe ich inzwischen ein recht gutes "Gefühl" entwickelt, wie ich bestimmte Gegenden einschätzen sollte um mögliche Gefahrenpunkte schon im Vorfeld zu minimieren. Passieren kann aber immer etwas. Ich habe generell jetzt im Alltag keine Angst, aber Respekt, ganz einfach weil ich schon mit eigenen Augen einiges mitbekommen habe. Trotzdem gehe ich mit einem guten Gefühl auf die Straße, aber eben auch mit Respekt ... vor dieser riesigen Stadt und ihren "anderen" Seiten (die sie leider eben auch ausmachen).



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