Mittwoch, 18. November 2015

Messer im Rucksack / ARTX: Graffiti Action / Largo dois de julho

Der Large dois de Julho liegt ein paar Kilometer vor dem Pelourinho und ist eine rege Marktgegend, in der fast schon zu viel Trubel herrscht zu bestimmten Zeiten. Von hier geht es sehr schnell (!) in eine der übelsten Gegenden der Innenstadt von Salvador über und man muss wirklich aufpassen, dass man hier vor Anbruch der Dunkelheit wegkommt. Dieser Bereich ist quasi das Verbindungsstück zwischen dem Marktreiben hier in den kleinen Straßen und dem Bezirk, wo die Ladeiras des Pelourinho beginnen. Hier geht normalerweise niemand (auch nicht am hellichten Tage) alleine entlang. In der langgezogenen Rua de Sodré liegt ein interessantes Museum, das wirklich nur (!) mit dem Taxi angefahren werden kann.

Ich denke immer wieder genau darüber nach: Wie schnell das in dieser Stadt geht. Eben noch in einer reichen Straße, voller Condomínios und Porteiros und schwupps 2 Straßen / Ladeiras weiter ist man mitten im Bereich des TRAFÍCO. :-/ Die Leute, die in diesen oft nach wenigen Metern fast leeren Straßen herumhängen, sind fast immer Crack-Abhängige, so hat es mir Elia aus meiner Gastfamilie erzählt, die vor einigen Jahren in diesem Bereich im Rahmen der Gesundheitsvorsorge Streetwork betrieben hat. Die Chance hier überfallen zu werden, dürfte nach Meinung vieler Einheimischer und allerlei Taxifahrer, die ich gefragt habe, noch deutlich höher sein als in den Favelas der Außenbezirke. Man könnte schon fast Wahrscheinlichkeitsrechnungen dazu aufmachen. Leider hat es auch einen Mann aus meiner Sprachschule hier "erwischt". An diesem Beispiel sieht man leider mal wieder, dass man auf die Warnungen der Leute, die vor Ort die Gegebenheiten einschätzen können, hören sollte und es beileibe keine Übertreibungen oder "Angst machende" Stories sind. :-(

Tagsüber kann man dort also auch nur in bestimmten Straßen in der Nähe der Markt-Gassen, wo überwiegend Früchte verkauft werden, alleine rumlaufen. In einer kurzen der Parallelstraßen ( die sind von beiden Seiten einsehbar und sehr kurz, man läuft also keine Gefahr dort "verloren" zu sein) habe ich ein paar "Kunstwerke" und Tags fotografiert und habe dabei Writer Carlos am helllichten Tage bei seinem Werk angetroffen.


Natürlich war ich überrascht, dass hier jemand tagsüber 2 Straßen entfernt von der Polizei öffentliche Mauern "verschönert". Da er einen sympathischen Eindruck machte, habe ich ihn angesprochen und wir haben uns gut unterhalten. Dass er gerne Metal hört und einige Bands mag, die ich schätze, hat unsere Kommunikation auf der gleichen Wellenlänge natürlich erleichtert. Mich hat das einfach interessiert, wie er es "wagen" kann am helllichten Tage hier zu malen, in einem so belebten Bezirk wie dem Largo 2 de Julho. Auch wenn ich massig Graffiti in der Stadt gesehen habe, so war es nun beileibe nicht so, dass ich jeden Tag da Leute tagsüber hab taggen sehen in aller Öffentlichkeit. Zumal ich inzwischen schon viel viel über die vorherrschende Polizeigewalt mitbekommen habe. Also Carlos...

Es war dann ein sehr interessantes Gespräch mit Carlos, der sichtlich Freude daran hatte, dass sich jemand für seine Tätigkeit interessierte. Er hat mir dann auch gleich "live" die ganze Bandbreite seiner Techniken gezeigt: Hat ne kleine Fliese herausgeholt und mir ein schickes "Strand-Motiv" mit einer speziellen "Wischtechnik" gemalt - und das alles auf wenigen Zentimetern. Gleich danach holte er ein ziemliche großes, ziemlich scharfes Messer aus seinem Rucksack um mir zu zeigen, wie er sich nachts bei seinen "Sprüh-Aktionen" gegen verschiedene Leute, die es auf ihn abgesehen haben, zur Wehr setzt. Wer das ist? Sicherlich nicht die Polizei ... sondern eher die Klientel, die nachts an Plätzen wie diesem herumhängt, raucht, tickt, raubt... 

Uff, da musste ich erstmal schlucken... nachdem ich über die Klinge gefühlt habe. Scheint so, als könne er sich da in seinem Viertel trotz aller Umstände recht gut behaupten, wie er berichtete. Er erklärte mir dann weiter, dass die Polizei, die an diesen Ecken stationiert ist (das ist die Militärpolizei, die an den meisten Punkten schwer gewaffnet herumspaziert) sich 0,0 um solche Sachen wie Graffiti an Mauern, die nicht Privatleuten gehören, interessiert. Klar, da gibts natürlich Wichtigeres und das meine ich nicht ironisch. Siehe oben (Crack-Tráfico etc.) Etwas überrascht war ich aber trotzdem. Okay, kein Wundert, dass Carlos so entspannt wirkte... andere Länder, andere... Graffiti-Sitten? Nunja, wir sind dann noch etwas zusammen die Straße entlang gezogen, Carlos wollte mir neben seinen Tags noch seine "andere Seite" als Künstler zeigen: Die hat mich dann fast noch mehr überrascht als das große Messer: Richtig schicke Kunstwerke für einzelne Händler in der Straße hat er angefertigt; mal Aerosol, mal mit seiner speziellen "Ölfarben-Wisch-Technik-auf-Fliesen", die er mir vorher gezeigt hatte. 

Wow, also nix da mit "Straßenbeschmutzer" und "only-Tagger". Er tagt zwar und das auch ziemlich viel... aber eben nicht nur. ARTX - sein Tag- ist mir dann, nachdem ich in den folgenden Tagen darauf geachtet habe, auch echt oft "begegnet" in diesem Teil der Stadt. Schon cool, wenn man dann das Gesicht dahinter kennt. Carlos war wirklich nett, ein guter Typ. Er ist halt hier aufgewachsen, da wird nicht lange gefackelt, da herrscht ein rauer Ton im Umgang mit anderen Writern ... die Stories über Stress und Schlägereien wollte ich dann aber nicht so genau wissen ;-) Ich kann mir das schon gut vorstellen. Viel interessanter fand ich, dass er für seine kleinen "Auftragsarbeiten" sogar recht gut entlohnt wurde von den Leuten, die in der Parallelstraße ihre kleinen Läden haben. Ziemlich verrückt alles ... bunte große Bilder und ein paar Meter weiter wird am helllichten Tage die Wand zugebombt, mit Ölfarbe... 

War ein richtig gutes Gespräch. Es hat mir mal wieder gezeigt, dass die Leute hier sehr dankbar sind, wenn man ehrliches Interesse an ihnen zeigt. Ich hab dann noch einiges über die Street-Szene in Salvador von ihm aufgeschnappt und hab ungefragt einige Tips bekommen, wo man am besten Maconha (Marihuana) und Koka bekommt ... nicht dass ich danach gefragt hätte. ;-) Verrückt. Carlos war wirklich n richtig netter Kerl, schade dass ich ihn dann doch nicht mehr dort angetroffen habe an den anderen Tage, als ich in dieser Ecke vorbeigeschaut habe. Das Messer werde ich so schnell nicht vergessen und ich hoffe, dass er immer noch wohlauf ist.


hier habe ich ihn bei seinem "Schaffen" angetroffen

Carlos Tag "ARTX"


Carlos neben einer seiner legalen Auftragsarbeiten

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