Montag, 31. Juli 2017

Körper liegen auf den Straßen - jeden Tag: Über die andere Seite des brasilianischen Alltags...



Ich habe das ja hier in der Vergangenheit auf meinem Blog schon mehrfach angedeutet und beschrieben, wie sehr die Themen Drogenhandel- / "Krieg", Gewalt, Kriminalität und Brutalität den Alltag vieler Stadtteile und damit auch der Menschen hier in Brasilien "zeichnen".

Klar, dass das große Probleme sind in Brasilien (neben der Korruption... aber das eine geht mit dem anderen einher), davon haben viele schon mal gehört, aber wie drastisch und eklatant die Zustände, die Gewalt wirklich sind, das kann man sich wirklich kaum vorstellen, wenn man sich damit nicht hier direkt vor Ort auseinandersetzen muss bzw. sich neben Kultur, Strand und Menschen auch für das interessiert, was eben AUCH "wirkliche Leben" hier ausmacht.

Ich muss ganz ehrlich sagen, so "traurig" es klingt, aber allein bei dem, was hier täglich (egal in welcher Stadt / Region) in den Nachrichten (ob TV, Zeitung, Weg) berichtet und gezeigt wird zu den Aspekten Kriminalität, Gewalt und Drogen, da kann ich es niemandem hier in der Bevölkerung verübeln, wenn er / sie zugibt: "Ja klar...stumpft man irgendwie ab im Laufe der Zeit."

Dazu nur mal eine Zahl:

"Im Jahr 2017 hat der Staat von Ceará bereits 2628 Morde in dem Intervall zwischen dem 1. Januar und dem 23. Juli registriert." 
(Quelle: http://www.blogdofernandoribeiro.com.br , Journalist aus Fortlaza)

Ja, wenn man sich jeden Tag die Meldungen anschaut in den Zeitungen / auf den Nachrichten-Seiten im Netz, dann verwundert einen diese wirklich unglaublich erschreckend hohe Zahl [quasi über 5000 Morde (!) in einem Bundesstaat miti 9 MIo Einwohnern in einem Jahr!] auch kaum noch, so "unmöglich" es sich auch anhören mag. 

In Salvador, Maceió und Recife habe ich 2015 / 2016 viele direkte und indirekte Einblicke in das Leben und die Abläufe in verschiedenen "Comunidades" / Favelas in Zusammenhang mit den oben beschriebenen "Problem-Aspekten" bekommen - u.a. habe ich mit einem Sozialarbeiter eine Favela besucht und mit vielen Leuten (auch dort) bezüglich dieser Thematiken gesprochen. Deshalb verwundert mich diese Zahl auch nicht wirklich - auch wenn diese Zahlen in Ceará wirklich im Vergleich auch zu anderen Staaten sehr hoch sind, auch im Vergleich zum letzten Jahr.

So traurig es klingen mag, man "gewöhnt" sich schon fast daran, dass jeden Tag bzw. besonders nach dem Wochenende x Meldungen kommen, dass es wieder mal hier Morde im Zusammenhang mit dem Drogenmilieu gab bzw. dort jemand erschossen wurde, weil es eine Auseinandersetzung zwischen den Gangs gab etc... Allein was hier jeden Tag an Überfällen und Tötungen durch diverse Kameras eingefangen wird. Es beschleicht mich eine Mischung aus Übelkeit und Traurigkeit...

Tote Körper liegen auf den Straßen - jeden Tag.

Da aber all diese Aspekte immer auch sehr viel mit den sozialen Verhältnissen (Armut, unvorstellbare Schere zwischen reichen und armen "Schichten" im Volk) zu tun haben, habe ich mich (auch aufgrund meiner "beruflichen Herkunft" als Sozialarbeiter schon immer auch für diese sehr negativen und traurigen Aspekte des Landes interessiert. 

Trotzdem muss ich sagen, dass ich am Ende dieses Aufenthaltes in Brasilien diesen Sommer 2017 noch einmal ganz unmittelbar und intensiv durch sehr "nahe" eigene Erlebnisse mitbekommen habe, wie sehr der Alltag der Menschen hier durch eben jene Gewalt und Kriminalität durchsetzt ist.

Besonders hier in Fortaleza, wo ich jetzt zum Ende hin nochmals einige Tage verbringe, ist so viel im Umkreis von 500 Metern meiner Unterkunft passiert... Ich bin sehr nachdenklich geworden und habe besonders in den letzten Tagen viel mit den Menschen hier in Fortaleza darüber gesprochen (besonders mit zwei Mitarbeitern "meiner" Pousada, die mir nochmal sehr tiefgehend viele Zusammenhänge vor Ort neu begreiflich machen konnten).

Zwei Mal habe ich es jetzt erlebt, dass ich mich als Unbeteiligter direkt und unmittelbar am "Rand" einer Schießerei wiedergefunden habe. Und glaubt mir, das Gefühl wenn du ganz nah bei dir so viele Schüsse hörst und die Panik der Menschen um dich herum spürst, das vergisst man nicht. Einfach nur weglaufen... einfach nur laufen.
Beide Male kam alles "aus heiterem Himmel", ohne irgendeine "Ankündigung", beide Male lag es auch nicht daran, dass ich in irgendwelchen "Randgebieten" oder am Rand irgendwelcher Favelas unterwegs war. Nein, an so etwas wie "fehlender Sensibilität für Gefahren" lag es sicher nicht. Beide Mal passierte es in ganz belebter Umgebung.



An meinem vorletzten Abend war ich nochmal an der "Orla", also an der Strandpromenade und hab mit einem Straßenhändler, der Kunsthandwerk verkauft, gesprochen. Es gibt da einen riesengroßen, relativ engen "Steg" (auf dem Foto gut zu sehen(, auf dem man mehrere Meter ins Meer gehen kann. Es war halb 10 am Abend als auf einmal ganz viele Schüsse zu hören waren... ich war vorne am Steg und war bis eben noch ganz vertief in das Gespräch als ich fast überlaufen wurde von den ganzen Menschen, die in Panik gerieten. Einfach nur weglaufen und nicht umdrehen. Ich glaub ich bin wie alle anderen mehrere Hundert Meter gelaufen an der großen Avenida ... bis man außer Reichweite war. Das Gefühl vergisst man nicht!

Auf diesem Instagram Video sieht man selbst die Leute, die noch weit weg waren:


Was war passiert?

Es gab einen Mord inmitten der Menschenmenge, die an diesem Samstag-Abend am Strand unterwegs war. Ganz plötzlich aus dem Nichts. Ein Junge war mit seiner Freundin auf dem Steg als auf einmal die Schüsse fielen. Er versuchte den Zeitungsberichten nach über den Steg seitlich zu fliehen, wollte über den Strand weglaufen (Ihr seht noch das Blut auf dem Boden am Tag danach) aber wurde noch mehrmals getroffen. 
Die Polizei kann nur spekulieren, was der "Anlass" war: Ob es eine Auseinandersetzung zwischen zwei Drogen-Gangs war oder ob der Junge Drogen-Schulden hatte... selbst ein "Aufnahme"-Ritual einer Gang wird nicht ausgeschlossen. Es gibt diese Fälle, dass man hier einen Menschen getöt haben muss, damit man "aufgenommen wird"...
Dazu wurde noch eine Frau von einer Kugel getroffen, die sozusagen wie sie danach zu Protokoll gab, als "menschliches Schutzschild" missbraucht wurde. 
Es kamen sofort mehrere Militär-Polizeit Wagen und letztendlich konnte der Mörder festgenommen werden, nachdem er auf dem Steg nach weiteren Schüssen auf die Polizei irgendwann nicht mehr entkommen konnte.

http://diariodonordeste.verdesmares.com.br/cadernos/policia/online/homem-e-executado-na-praia-de-iracema-e-tiros-causam-panico-e-correria-1.1796962

All das zeigt: Auch wenn der Großteil solcher Morde und Tötungen meist mit Auseinandersetzungen im Drogen-Milieu zu tun hat, ist all das IN DER GESELLSCHAFT, MITTENDRIN. Es werden Unbeteiligte getroffen, wortwörtlich. Und solche Fälle gibt es jeden Tag in Brasilien: Kinder sterben in den Auseinandersetzungen in den Favelas, unschuldige geraten in Schusswechsel, werden Oper, weil sie zur "falschen Zeit am falschen Ort" waren. Wie die Frau, der ins Bein geschossen wurde... und die damit noch "gut" aus der ganzen Situation herausgekommen ist; sie hätte tot sein können wie viele andere Unbeteiligte auch.



aktueller Bericht über das "unsichere" Gefühl hier im Iracema Viertel am Strand nach mehreren Morde in den letzten Wochen (Achtung: "Starke" Szenen)

Nach dieser Erfahrung (und dem Pulsschlag beim Weglaufen) und dem Gefühl danach würde ich nie jemandem zustimmten, der der Ansicht ist - und es gibt durchaus auch einige Menschen hier, die diese Einstellung vertreten -  dass es neben der "normalen" Kriminalität (also Raub, Überfälle etc.) eigentlich so ist, dass der Großteil der Gefahren sich im Umfeld der Drogenaktivitäten bewegt. Nein - eben nicht. Man lebt hier nicht nur gefährlich, wenn man sich sein Crack in der Favela kaufen will (und es vielleicht irgendwann nicht mehr bezahlen kann...) All das: Drogen, Gewalt... das ist in den Straßen, in den Zentren und das nicht nur in der Nacht, sondern auch am Tag.

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Das zeigt auch mein anderes Erlebnis als ich zuvor in São Luís war. Einigen von euch habe ich ja auch sofort danach eine Nachricht geschickt, weil ich so aufgewühlt war. Im historischen Zentrum der Stadt mit vielen kleinen und engen (Steigungs-) Gassen war ich an vielen Tagen dort unterwegs... als plötzlich Schüsse zu hören waren, direkt als ich gerade nach links an einer kleinen Kreuzung abgebogen bin. Sofort bin ich mit den anderen 10-20 Leuten zusammen, die mit mir in der Gasse waren, einfach nur losgelaufen... und wir konnten uns in einem privaten Haus auf dem Flur verstecken und einschließen. 
Es war ein Überfall von 3 Leuten auf eine kleine Bankfiliale. Es gab 2 Sicherheitskräfte, die sich ein Feuergefecht in der kleinen Gasse mit den Angreifern geliefert haben. 2 von ihnen konnten entkommen und der andere wurde dann überwältigt und dann der Polizei übergeben. Wahnsinn, was in der kleinen Straße los war als die Situation beruhigt war. Die Einwohner aus den Häusern wollten den Dieb schon fast selbst "rächen"...  
Nun, es gibt Favelas mit ganz klaren Graffitis: "Wer in unserer Favela stiehlt, den lynchen wir". Und das wird auch praktiziert...






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Noch ein paar weitere Gedanken zu diesem Thema:

Große Schlagzeiten hat besonders ein Mord-Fall in der letzten Woche in Fortaleza bereitet und das weltweit: 
Ein Fahrer (ein sehr junger Student im Nebenjob), der für die "Beförderungs-App" Uber fährt, wurde ermordet, weil er in der Nähe einer Favela nicht die "Anweisungen" der dort herrschenden Gang befolgte (aus reiner Unwissenheit): 
Es gibt viele Gegenden / Straßen und "Eingänge", besonders solche, die in kleine Favelas in der Mitte der Stadt führen, an denen auf Graffitis klar zu verstehen gegeben wird, dass man doch "darum bittet", dass man als Fahrer die (in Brasilien oft verdunkelten) Seitenscheiben im Auto herunterlässt bzw. als Motorradfahrer seinen Helm abnimmt...und sein Gesicht zeigt. 
Ja ihr habt richtig gelesen. Alle "müssen" das machen... Das sind die Regen von Comando Vermelho (CV aus Rio), des PCC ( aus. S.Paulo) oder diversen anderen größeren oder kleineren lokalen Gangs. Ja, das ist einfach so. Ich habe einige dieser Graffitis an solchen "Ecken" gesehen und natürlich muss man das alles erstmal verstehen... warum diese Bitte bzw. eigentlich sind es ja mehr strikte Anweisungen gegeben werden. Da geht es nicht darum, dass Verkehrsrisiken vermeiden werden sollen... Nein, es geht statt um Gesundheit ganz klar um Gang-Rivalitäten. 

Mich hat es so geschockt als ich von der traurigen Nachricht in den Lokalnachrichten gelesen habe... besonders weil ich einen Tag vorher noch im Zentrum von Fortaleza (siehe meine Fotos unten) vor einem solchen Graffiti stand und darüber nachgedacht habe. Wer als "Rivale" hier herkommt, der wird umgebracht. Das klingt jetzt unglaublich traurig und übertrieben, aber es ist so. Man muss sich sozusagen "ausweisen", indem man sein Gesicht klar zu erkennen gibt. 
Der junge Student, der so gar nichts (nach allen Recherchen) mit Drogenmilieus zu tun hatte, kannte diese "Regeln" nicht und wurde für einen "Konkurrenten" / für ein Mitglied einer anderen Gang gehalten... ein totales und trauriges Missverständnis. 

Hier in Fortaleza haben diese Graffitis und dieser tragische Fall für viele Diskussionen auch auf politischer Ebene gesorgt... und mal wieder die Frage aufgeworfen, inwiefern die Polizei überhaupt noch Zugriff auf bestimmte Gebiete hat. Es fällt genau in die Aktivitäten dieser Tage in Rio de Janeiro, wo der Präsident mal eben zigtausende Militärs aufmarschieren lässt im Kampf gegen die Drogen-Gangs in den Favelas auf den Hügeln.

Man muss auch hier in Fortaleza schon sehr blind auf beiden Augen sein, wenn man sich dem verschließen will, wie sehr die einzelnen großen überregionalen Gang-Fraktionen des Landes überall in der Stadt durch ihre Zeichen und die ihnen eigenen "Regeln" "präsent" sind.




Ein weiterer schreckliche Fall nur wenige Meter vor meiner Unterkunft entfernt hier am Strand im Iracema-Viertel entfernt ereignete sich Anfang des Monats, als der Besitzer einer Reggae Bar ohne Gnade von einem Mord-Kommando in seiner Bar erschossen wurde. Dieses Schicksal hat für sehr viel Anteilnahme und Diskussionen im Viertel und in der ganzen Stadt gesorgt, da der "bicho-papão" genannte Bar-Inhaber sich seit Jahren gegen den Drogenhandel- / Verkauf in seiner Bar und im Umfeld stark gemacht und positioniert hatte. Dafür musste er nun mit seinem Leben bezahlen. Erschütternder und trauriger kann man es sich eigentlich nicht ausmalen. Mich hat diese Nachricht sehr bewegt und bestürzt.

Der Mörder kam aus der Favela "Baixa Pau", einer kleinen ca 2500 Einwohner großen Comunidade hier ganz zentral gelegen zwischen Strand und Centro. Ich bin mehrmals (zusammen mit Roberio und auch danach alleine) dort gewesen und habe mich bei meinen Durchgängen dort auf der "Hauptstraße" (also auf dem Haupt-Weg dort, Asphalt gibt es dort ja nicht) tagsüber immer recht "sicher" gefühlt, wobei ich mir natürlich klar ist, dass dies kein Ort ist, den man zu anderen Tageszeiten aufsuchen sollte.
Es ist einfach sehr erschreckend und erschütternd, wenn man feststellt und erfährt, was alles an schrecklichen Vorgängen an Orten passiert, die man vor kurzer Zeit noch besucht oder durchquert hat. 

Auch direkt gegenüber meiner Pousada auf der anderen Straßenseite ist eine schreckliche Sache passiert: Am Sonntag wurde von den abfahrenden Müll-Unternehmen beim Einsammeln der Tonnen ein toter Babykörper gefunden...

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Wie gesagt, es ist nicht so, dass all das - Gewalt, Kriminalität, Elend - so weit weg ist in Brasilien, egal von wem ... diese Themen sind IN DER GESELLSCHAFT, UNTER DEN MENSCHEN, IN DEN STRAßEN und manches war erschreckenderweise auch mir "relativ" nah. 
Es muss noch so viel passieren in diesem Land ...  mehr "Gleichheit", mehr Gerechtigkeit, mehr Mitgefühl.

Es macht mich traurig festzustellen, dass sich in diesem so schönen Land sehr vieles scheinbar statt zu einer Verbesserung hin zu mehr Menschlichkeit eher zu einer Verschlimmerung dieser Zustände in den letzten Jahren entwickelt hat ... 

Aber all das auszublenden und zu ignorieren, das geht meiner Ansicht nach an der Realität auf jeden Fall vorbei. Zumindest für jemanden, der sich für das interessiert, was "das Leben in Brasilien" ist ... und nicht für das, was auf Postkarten abgedruckt und in Reiseberichten über schöne Strände und Naturwunder beschrieben werden kann.



Überblick über die verfeindeten Drogen-Gangs des Strandabschnittes Iracema


Bericht über die Untersuchungen und Ermittlungen in der Favela Baixa Pau nach dem Mord am beliebten Inhaber der Reggae Bar

https://www.youtube.com/watch?v=rGAnUsHspPQ

Samstag, 29. Juli 2017

Delta do Parnaíba







Im Nordwesten von Parnaíba breitet sich das gewaltige Parnaíba-Delta aus. Dieses 2700 qkm große Wasserlabyrinth bildet zusammen mit gut 80 Deltainseln eines der größten Flussdeltas Amerikas, das sich die beiden Bundesstaaten Maranhão und Piaui teilen. 

Das Delta des Rio Parnaíba (manchmal auch Delta das Américas genannt)ist ein extrem artenreiches Gebiet mit Inseln, Stränden, Lagunen, Kanälen, hohen Sanddünen und dichten Mangrovenwäldern. Es liegt zu 65 % im Bundesstaat Maranhão, ist aber leichter von Parnaíba in Piauí aus zu erreichen. 

Die meisten Touren starten 14 km von Parnaíba entfernt im Hafen "Porto dos Tatus". Ich hab mich auf ein großes Boot begeben, mit dem wir den ganzen Tag auf dem Rio Parnaíba durch das Delta geschippert sind - bis zur Bucht "Baia das Canárias", wo der Fluss und das Meer des Atlantischen Ozeans zusammentreffen 2x sind wir auch auf kleinere Boote umgesattelt, mit denen man auch auf kleineren Flussabschnitten fahren konnte.

Auch hier gab es wieder eine spektakuläre Dünenlandschaft ... bei der der Sand mittags so heiß war, dass man schon seine Havaianas brauchte, damit man kein Feuer unter den Füßen entfacht. ;-)