Dienstag, 20. Oktober 2015

perigoso (1)




Es folgt ein interessanter kleiner Text über einen thematischen Zusammenhang, den ich jeden Tag in meinem Kopf mal mehr und mal weniger mit mir herumtrage und der mich beschäftigt.

Wenn ich dabei bin die Stadt weiter für mich zu erforschen, ist die Frage nach "É perigoso là"? (also "gefährlich") eigentlich immer Teil meiner Gespräche mit den Menschen, die ich auf den Straßen treffe. Darüber und auch durch einige Sachen, die ich am Rande oder aber auch direkt über persönliche Kontakte mitbekommen habe, habe ich nun schon einiges erfahren über das, was "abseits der bekannten Wege" (und damit meine ich jetzt erstmal all jene Wege, die Ausländer bzw. Touristen in der ersten Zeit so kennenlernen, sofern sie denn überhaupt daran Interesse haben) hier so passiert und abläuft. Mit der Haushälterin und der Familie Cardoso habe ich auch schon oft über diese Themen gesprochen. Wie sagte Roberto, der amerikanische Ehemann hier in meiner Gastfamilie als er 3 mal auf Holz klopfte: "This here is not Germany!".

Ich möchte keinen von euch beunruhigen, aber die Themen *Kriminalität Gewalt, Armut und Drogen* spielen hier schon eine große Rolle. Natürlich, die Polizei ist an den meisten stark frequentierten Plätzen, besonders auf denen die von Touristen besucht werden, präsent aber bereits eine Ecke weiter findet man, besonders in dem Dschungel der kleinen und steilen Gassen der Altstadt binnen Sekunden eine ganz andere Welt vor. 

Wer behauptet, Salvador sei keine gefährliche Stadt, der ist a) entweder nur auf absolut touristischen Trampelpfaden unterwegs - oder b) ist so naiv, dass er/sie einfach nicht mitbekommt, was hier alles so los ist. 

Für mich ist dieses Themenspektrum, gerade auch vor dem Hintergrund meiner Profession als Sozialarbeiter ein solches, was mich schon sehr umtreibt und beschäftigt. Die letzten Tage war ich oft nachdenklich aufgrund der vielfach sichtbaren Zeichen von Armut vieler Menschen hier. Klar, wenn man immer nur am Strand rumhängt oder auf den Avenidas flaniert oder hier in meinem gut situierten Viertel in Barra sich die Zeit vertreibt, dann wird einen das auch hier nicht so beschäftigen, aber wenn man mit offenen Augen und einem mitfühlenden Herzen durch die Stadt geht bzw. mit dem Bus in die Vororte fährt, dann ist es schon oft so, dass viele "Elend" sehr stark sichtbar wird. Salvador ist nicht "clean"/ sauber. Salvador ist reich an Kultur, an vielen Schätzen... aber das Salvador der "einfachen Leute", ist gekennzeichnet von großer Armut. 

Auch am Strand bin ich am Wochenende darüber nachdenklich geworden.
Nein, mir hat keiner meine 50 mitgenommenen Reais oder mein Cap geklaut. Nein, ich habe 2 Kinder gesehen, wie sie hier am Strand wie "die großen coolen Jungs" mit ihren Bauchtaschen ihre kleinen Snacks verkaufen wollen. Nichts ist dagegen zu sagen, wenn man mit 16, 17 hier n paar Sachen am Strand verticken will, aber diese beiden Kinder waren sehr sehr jung und ich habe gesehen wie unwohl sie sich gefühlt haben. Die "großen Jungs" hier am Strand, seien es die Händler im Sand oder solche, die das Geschäft mit Sonnenschirmen, Stühlen etc. betreiben, die haben immer einen coolen Spruch auf Lager, scherzen, haben für sich eine "relativ gute Zeit", sie fühlen sich lässig, haben die Erfahrung, treten selbstbewusst auf.

Aber diese beiden Kinder: Ich habe in ihre Augen geblickt und ich habe die Unsicherheit gesehen. Keine lockeren Sprüche wenn sie durch die Sonnenanbeter am Strand im Parkour gegangen sind um ihre Sachen zu verkaufen. Sie waren ganz leise, eingeschüchtert, verunsichert unter all diesen Erwachsenen. Natürlich waren sie das, es waren ja auch Kinder... höchstens 11, 12 Jahre alt. Sie haben das Unwohlsein so stark ausgedrückt, dass mich dieser Eindruck wirklich übere mehrere Stunden nicht mehr losgelassen hat. Dann sitzt du da am Strand und denkst dir: Und diese Kinder werden von ihren Eltern in so frühem Alter schon losgeschickt um das Strandbiznes zu erlernen, weil sie es MÜSSEN. WEIL DAS GELD NICHT REICHT. Sie taten mir so sehr leid, weil ich wirklich gemerkt habe, wie unwohl und verängstigt sie ihrer Arbeit am Strand nachgegangen sind.

Betteln um Geld und Essen... für Drogen, in der Altstadt, überall in der Stadt. Das ist das eine, aber darüber hinaus gibt es leider noch viele weiter Bilder von Armut, die manchmal unterschwelliger und subtiler sind. Mich hat der Anblick dieses Mädchens den Tag über leider nicht mehr losgelassen und ich hoffe, dass sie, sollte sie nicht einen anderen Weg einschlagen können, irgendwann wenigstens die Angst und Unsicherheit auf ihren Wegen durch den Sand verlieren mögen.

Diese Armut ist leider der Boden für vieles was man sieht, wenn man mal genauer hinschaut hier in Salvador. Und nicht alle verkaufen Kleinigkeiten am Strand

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                 "Brasilien. Salvador de Bahia, Hauptstadt des nordöstlichen Bundesstaates Bahia. Bekannt für seine Lebensfreude, besonders während des Karnevals und wegen seiner unzähligen Sehenswürdigkeiten. Brasiliens drittgrößte Stadt gilt vor allem auch aufgrund ihrer Direktflüge von und nach Deutschland als touristisch geschätzter und beliebter Anziehungspunkt. Einheimische bestätigen immer wieder, dass der Karneval in Salvador weitaus lebhafter und leidenschaftlicher zelebriert werde, als sein bekannter Bruder in Rio de Janeiro.

Dies liegt möglicherweise auch an Salvadors offen gelebter Multikulturalität. So gilt die Municipio seit jeher als Schmelztiegel afroamerikanischer und brasilianischer Kultur. Küche, Musik und Religion prägen mit ihrer ganz speziellen afrobrasilianischen Art Stadtbild und Altstadt. Apropos Altstadt. Diese ist bereits seit 1985 als UNESCO Weltkulturerbe gelistet und zählt mit ihren bunten und verspielten Kolonialgebäuden zu den schönsten ihrer Art. Doch auch die Strände in der Umgebung gelten als absolute Highlights auf einer Reise durch Brasilien, sodass es wenig verwundert, dass die 2,6 Millionen zählende Stadt direkt an der Spitze der sogenannten „Baia de Todos os Sontos“ liegt. Zu Deutsch: die Allerheiligenbucht. Heilig sind vielen Salvadorianern vor allem ihre Kultur, Feierlaune und paradiesisch anmutenden Strände.

Doch Salvador kennt auch eine andere Seite: eine sich sukzessive verschlimmernde Spirale der Gewalt zwischen verfeindeten Drogenkartellen. Bandenkriege. Ebenso simple wie schockierende Alltagsgewalt, beispielsweise bei Nachbarschaftsstreitigkeiten. Schon heute verzeichnet Salvador mit 60 Morden auf 100.000 Einwohnern die höchste Mordrate unter allen brasilianischen Städten. Dies sind die Kehrseiten dieser facettenreichen Stadt. Wer an Gewalt, Mord und Kriminalität in Brasilien denkt, assoziiert damit als erstes die bekanntesten Metropolen Rio de Janeiro und Sao Paulo. Dort ist die Mordrate inzwischen deutlich geringer als in Salvador.

Was macht Salvador, zigtausend Kilometer nördlich der Strände der Copacabana so gefährlich? Gefährlich auch für Reisende. Aber vor allem für die Brasilianer selbst, die tagtäglich mit der Gefahr einer Schießerei, eines kaltblütigen Mordes, Vergewaltigungen, Raubüberfallen oder einer einfachen Prügelei leben und ihren Alltag danach gestalten müssen.

Die Gründe sind vielschichtig. Brasilien gilt als aufstrebendes Schwellenland. Brasilien, Indien, China, Südafrika. Alle bewegen sich in Richtung einer Industrienation. Alle haben mit den gleichen Problemen zu kämpfen. Salvador ist da ein Spiegelbild. Wo neuer Reichtum ist, bleibt häufig auch bei vielen Armut. Wo Armut ist, dort herrscht vielerorts Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit. Wo Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit den Alltag vieler Menschen bestimmt, nehmen Drogen einen wichtigen Platz ein. Handel ermöglicht vielen Familien eine finanzielle Perspektive, zumindest eine Beschäftigung. Mitarbeit im Drogenhandel kann freiwillig geschehen, jedoch werden die Menschen viel häufiger aufgrund der instabilen sozialen Lage zur Mitarbeit gezwungen.

Opfer der Drogengewalt müssen nicht zwangsläufig Teil von Drogenkartellen sein. Beschaffungskriminalität, das Einschüchtern Unbeteiligter oder Gewalt, die wiederum in Gegengewalt mündet, tragen einen erheblichen Teil zur schwierigen Sicherheitslage in Teilen Salvadors bei.

Häufig wird die Millionenmetropole Schauplatz von Einflusskriegen zwischen konkurrierenden Drogenkartellen um die Vorherrschaft im Stadtteil.

Diese sind streng nach Drogenkartellen aufgeteilt. Brasiliens einflussreichstes Drogenkartell Primeiro Comando da Capital (kurz PCC) erkannte schon vor einigen Jahren die Notwendigkeit, seinen Einflussbereich auch in den Norden Brasiliens auszubauen. Eine enorme Polizei- und Militärpräsenz in den bekanntesten Städten Rio de Janeiro und Sao Paolo im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft und den olympischen Sommerspielen 2016 erleichterten die Entscheidung mächtiger Drogenkartelle. Der Einflussbereich musste ausgebaut und gleichzeitig verlagert werden.

Der Schritt erscheint aus Sicht der Drogenkartelle nachvollziehbar. Salvador de Bahia, zwar WM-Spielort und bei Touristen beliebt, hat in der Weltöffentlichkeit bei weitem nicht den Bekanntheitsgrad, den die Stadt am Zuckerhut genießt. Rio ist und bleibt der sicherheitstechnische Gradmesser in der Weltöffentlichkeit. Ist Rio sicher, ist Brasilien sicher, lautete jahrelang das Dogma. So bewertete die Weltöffentlichkeit die Tauglichkeit Brasiliens als Gastgeber für die beiden größten Sportereignisse der Welt. Dabei ging es nicht einmal um die Sicherheit Rios, sondern um die Sicherheit für Touristen an touristischen Orten und Sehenswürdigkeiten Rios. Ein riesiger Unterschied. Die brasilianische Regierung kam dieser Aufforderung nach. Rio wurde umgekrempelt. Das Militär in die Favelas geschickt. Der Einflussbereich der Drogenkartelle scheinbar zurückgedrängt. Tatsächlich zurückgedrängt? Nach Norden verlagert. Die scheinbaren Erfolge der brasilianischen Regierung gegen die (Drogen-)kriminalität wirken unter diesem Aspekt fadenscheinig.

Das mächtigste Drogenkartell Brasiliens PCC dehnte seinen Einflussbereich gen Salvador aus. Und stieß prompt auf Widerstand. Der lokale Drogenhandel war bereits von kriminellen Gangs wie beispielsweise Peace Comand und Gropo de Perna strukturiert, besetzt und nicht minder umkämpft. Was folgte, war ein unübersichtlicher Kampf zwischen mächtigen Drogenkartellen, verbündeten und verfeindeten Gangs, um Macht, Einfluss und Geld.

Ganze Straßenzüge und Viertel gelten entweder als PCC, PC oder GdP Gebiet. Während der Osten Salvadors als Grupo de Perna Gebiet gilt, erstreckt sich der Einflussbereich des Peace Comand auf die westlichen Stadtbezirke. Blutige Kämpfe sind an der Tagesordnung und traumatisieren eine ganze Stadt. Eine beängstigende Gewaltkultur, auch abseits der organisierten Kriminalität, hat sich in der Millionenmetropole fest verankert.

Dazu die grassierende Korruption in der öffentlichen Verwaltung. Alles und jeder gilt als käuflich. Geld bedeutet Einfluss. Einfluss bedeutet Macht. Drogenkartellen spielt dies in die Hände und erleichtert ihnen den Zugang zu sogenannten neuen Absatzmärkten. Und die Spirale der Gewalt dreht sich weiter in Brasiliens drittgrößter Stadt.

Aber wie lassen sich diese gar so widersprüchlichen Gesichter einer Stadt zusammenfügen? Tourismus, Traumstrände, Lebensfreude, unzählbare Sehenswürdigkeiten, aufstrebende Wirtschaft in einem Schwellenland, aber dann die sich tagtäglich verschlimmernde Drogengewalt, organisierte Kriminalität, Mord und Totschlag.

Salvador de Bahia – eine tragisch schöne Millionenmetropole an Brasiliens Küste. Geschätzt und gefährlich. Lebensfroh und leidgeprüft."
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kopiert aus: http://www.drogenmachtweltschmerz.de/2015/02/drogen-und-gewalt-im-jahr-nach-der-fussball-wm-brasiliens-drittgroesste-stadt-kommt-nicht-zur-ruhe/


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