Die
brasilianischen Favelas haben den Ruf, Heimat der Drogenszene sowie
skrupelloser und gewaltbereiter Bewohner zu sein. Doch auch die Rolle
des Staates ist hier wenig ruhmreich: Die Bewohner der armen Stadtteile
erleben die Polizei als nahezu ebenso unberechenbar wie Drogenhändler
und Militärmilizen.
In den achtziger und neunziger Jahren haben Drogenhandel und
organisiertes Verbrechen in den brasilianischen Favelas zugenommen. In
der Öffentlichkeit etablierte sich dadurch das Bild der Favelas als
No-go-areas, als Nährboden für Gewalt und Kriminalität. Tägliche
Berichte von Delinquenz und Morden trugen dazu bei, das
pauschalisierende Stigma der schwarzen, gewaltbereiten Favela-Bewohner
zu verfestigen.
Mit diesem Gewaltdiskurs konnte der Staat seinen Rückzug aus
sozialpolitischen Verantwortungsbereichen wie Bildung, Gesundheit und
Sicherheit rechtfertigen. In den Favelas entstand dadurch ein
Machtvakuum – die Bewohner mussten sich verstärkt selbst organisieren,
und für die Drogenkartelle wurde es leichter, sich auszubreiten und die
Kontrolle zu übernehmen. Besonders gravierend war für die Bevölkerung der Rückzug der Polizei.
Da die Zivilpolizei beim Abbau von Kriminalität, Gewalt und Korruption
versagt zu haben schien, wurden die Präsenz und die Befugnisse der
Militärpolizei in den Städten ausgebaut. Die vielfach schlecht
ausgebildeten und gering bezahlten staatlichen Sicherheitskräfte
bildeten außerdem paramilitärische Gruppierungen. Sie sind für die Armen
aufgrund der Gewaltdemonstrationen – vor allem in Rio de Janeiro und
São Paulo – zu einer stets präsenten Bedrohung geworden.
Die tatsächliche Macht der Drogenkartelle wird teilweise stark
überbewertet. Doch auch dieser Diskurs diente dazu, unangemessene
Militäreinsätze zu legitimieren, die auf bloße Einschüchterung und
Panikmache in den Favelas abzielen. Eine hoffnungsvolle Wende ist
derzeit in den Befriedungsaktionen von Staat und städtischen Regierungen
zu sehen, wie in der Favela Dona Marta in Rio. Sie sollen die Favelas
wieder sicherer machen und ihren Ruf verbessern.
Strafender Umgang mit Armut
Gewalt wird in Brasilien nach wie vor eng mit Armut und Hautfarbe in
Verbindung gebracht. Bereits während der Sklavenbefreiungskämpfe
etablierte sich der Ruf der Dunkelhäutigen als kriminell, gewaltbereit
und moralisch verdorben. Die „Farbe der Gewalt“ (Wacquant, 2005) ist für
die Brasilianer immer noch klar definiert. Die rassistische
Diskriminierung wird zudem vom sozialen Status abhängig gemacht. Zwar
gibt es in Brasilien durch die Vermischung keine klare Abstufung der
Hautfarben mehr. Tatsache ist jedoch, dass die Mehrheit der
Favela-Bewohner dunkelhäutig ist.
Der „strafende Umgang“ (Wacquant, 2005) mit den Armen spiegelt sich
insbesondere in der Polizeiarbeit und in der Gerichtsbarkeit wider.
Amnesty International zufolge kommen in Brasilien vor allem die Ärmsten
durch Schusswaffengebrauch ums Leben. 2007 starben weit mehr als 1000
Menschen allein bei Auseinandersetzungen mit der Polizei. „In vielen
dieser Todesfälle deuteten die Umstände auf exzessiven Gewalteinsatz der
Sicherheitskräfte oder extralegale Hinrichtungen hin“, schreibt Amnesty
im Jahresbericht 2007. Die offizielle Darstellung der Polizei dagegen
laute üblicherweise „Tod durch Widerstand gegen die Staatsgewalt“.
Auch in Brasiliens Gefängnissen herrschen abhängig vom sozialen
Status und der Hautfarbe vielfach entwürdigende Bedingungen, mit
Menschenrechtsverletzungen von Misshandlungen über Folter bis hin zu
Mord durch Polizisten oder Mitinsassen. Sozial Bessergestellte hingegen,
die einen Universitätsabschluss oder auch nur die „richtige“ Hautfarbe
haben, profitieren von Einzelhaft und bevorzugter Behandlung. Mit den
richtigen sozialen Kontakten oder ausreichend finanziellem Kapital
erreichen sie häufig sogar eine Abbuße der Haftstrafe oder eine
(vorzeitige) Haftentlassung. Das strukturell verfestigte
Zweiklassenstrafrecht erhöht die Verwundbarkeit der städtischen
Unterklasse, die nicht als „gleichwertige“ Bürger vor dem Gesetz
anerkannt werden.
In der 2,7 Millionen Einwohner zählenden Küstenmetropole Salvador de
Bahia ist der organisierte Drogenhandel wie in Rio de Janeiro und São Paulo deutlich präsent, und auch
hier gefährdet er gerade die jungen Männer. Fehlender sozialer Halt und
Perspektivlosigkeit machen sie labil für die Verlockungen des lukrativen
Drogengeschäfts, das einen sozialen Aufstieg unabhängig von Herkunft,
Schul- oder Berufsausbildung erlaubt.
„Wenn die Bosse aus Rio kommen, dann suchen sie ihre Leute nach einem
bestimmten Profil“, erzählt ein Jugendlicher. Sie suchen Jungen, die
wenig Perspektiven haben, auf sich gestellt leben und arm sind. „Wenn
du so jemandem Geld anbietest, macht er, was du ihm sagst“, fügt er an.
Viele, die sich so in den Drogenhandel verwickeln, werden dann selbst
abhängig, erzählt ein anderer Jugendlicher. „Am Ende bringt entweder die
Polizei sie um oder die angeblichen Kumpels wegen ihrer
Drogenschulden.“ Die von der organisierten Drogenökonomie ausgehende
Gewalt richtet sich jedoch in erster Linie nach innen, also gegen die
Favela-Bewohner. Die häufigsten Todesursachen bei Männern zwischen 15
und 30 Jahren sind Unfälle und äußere Gewalteinwirkung (IBGE, 2007). Die
meisten Morde dienen jedoch nicht der Einschüchterung der Bewohner,
sondern ereignen sich im Streit um die lukrativsten Drogenumschlagplätze
oder bei Schusswechseln mit der Polizei. Verfehlte Schüsse fordern
zusätzlich immer wieder zivile Opfer.
Gleichzeitig ist soziale oder ethnische Diskriminierung durch die Polizei an der Tagesordnung. Nicht nur Beleidigungen, auch körperliche Verletzungen Unschuldiger kommen immer wieder vor, bleiben jedoch disziplinarstrafrechtlich meist folgenlos. „Die Polizisten wollen es so sehen, dass Schwarze immer Diebe sind. Und wer Dieb ist, ist ein Drogenhändler“, berichtet ein 22-jähriger Favela-Bewohner aus Salvador.
Er zeigt auf Narben und Schrammen an seinem Körper und berichtet, er habe schon viel Prügel bekommen, obwohl er nur danebengestanden habe. „Einmal hat mich die Polizei festgehalten, als ich gerade aus dem Haus von einem Kumpel kam“, erzählt er. „Sie haben uns einen Schlag gegeben und gesagt, dass sie uns mitnehmen, wenn wir uns hier so auf der Straße herumtreiben.“ Gegen diese alltägliche Gewalt schließen sich die Favela-Bewohner notgedrungen zusammen – und schützen dadurch auch jene, die in den Drogenhandel verwickelt sind. „Wir wissen alles über jeden von uns“, sagt ein 44-Jähriger. „Aber wenn die Polizei kommt, sagt niemand etwas. Wir müssen uns gegenseitig schützen.“ Ein weiterer Favela-Bewohner erklärt: „Jeder weiß, wer mit Drogen handelt, aber niemand wird ihn anzeigen. Denn wer den Dealer verrät, ist sein nächstes Opfer.“ Loyalität gegenüber dem staatlichen Sicherheitsapparat wird weder honoriert, noch hilft sie im Alltagsleben.
Um das Problem der Gewalt langfristig anzugehen, sind vor allem in den Bereichen Bildung und Strafrecht weitere Reformen nötig. Die staatlichen Schulen und Berufsausbildungsangebote müssten verbessert werden, Kinder und Jugendliche vor den Lücken im Strafgesetzvollzug geschützt und die prekären Zustände in den Erziehungs- und Wiedereingliederungsanstalten für minderjährige Straffällige aufgehoben werden.
Hoffnung weckt die steigende Zahl an Initiativen zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Favelas. Mit ihnen erhalten die Bewohner nicht nur die Möglichkeit, sich gegenüber der Außenwelt positiv darzustellen. Die Initiativen von staatlicher wie nichtstaatlicher Seite signalisieren Anerkennung, erhöhen die öffentliche Aufmerksamkeit und fördern einen differenzierten Blick auf die Favelas. Nur so kann die diskriminierende öffentliche Meinung verändert werden, die auch die gravierenden Ungerechtigkeiten im Straf- und Justizwesen als legitim erscheinen lässt
Gleichzeitig ist soziale oder ethnische Diskriminierung durch die Polizei an der Tagesordnung. Nicht nur Beleidigungen, auch körperliche Verletzungen Unschuldiger kommen immer wieder vor, bleiben jedoch disziplinarstrafrechtlich meist folgenlos. „Die Polizisten wollen es so sehen, dass Schwarze immer Diebe sind. Und wer Dieb ist, ist ein Drogenhändler“, berichtet ein 22-jähriger Favela-Bewohner aus Salvador.
Er zeigt auf Narben und Schrammen an seinem Körper und berichtet, er habe schon viel Prügel bekommen, obwohl er nur danebengestanden habe. „Einmal hat mich die Polizei festgehalten, als ich gerade aus dem Haus von einem Kumpel kam“, erzählt er. „Sie haben uns einen Schlag gegeben und gesagt, dass sie uns mitnehmen, wenn wir uns hier so auf der Straße herumtreiben.“ Gegen diese alltägliche Gewalt schließen sich die Favela-Bewohner notgedrungen zusammen – und schützen dadurch auch jene, die in den Drogenhandel verwickelt sind. „Wir wissen alles über jeden von uns“, sagt ein 44-Jähriger. „Aber wenn die Polizei kommt, sagt niemand etwas. Wir müssen uns gegenseitig schützen.“ Ein weiterer Favela-Bewohner erklärt: „Jeder weiß, wer mit Drogen handelt, aber niemand wird ihn anzeigen. Denn wer den Dealer verrät, ist sein nächstes Opfer.“ Loyalität gegenüber dem staatlichen Sicherheitsapparat wird weder honoriert, noch hilft sie im Alltagsleben.
Auswege aus dem Gewalt-Stigma
Als Wohnorte sind Favelas schlechte Adressen. Die Behandlung der städtischen Unterschicht als Bürger zweiter Klasse durch Polizei, Justiz und Öffentlichkeit trägt dazu bei, dass sich die Favela-Bewohner in einer Armuts- und Gewaltspirale befinden. Sie erfahren Ungerechtigkeit von vielen Seiten – auch der staatlichen.Um das Problem der Gewalt langfristig anzugehen, sind vor allem in den Bereichen Bildung und Strafrecht weitere Reformen nötig. Die staatlichen Schulen und Berufsausbildungsangebote müssten verbessert werden, Kinder und Jugendliche vor den Lücken im Strafgesetzvollzug geschützt und die prekären Zustände in den Erziehungs- und Wiedereingliederungsanstalten für minderjährige Straffällige aufgehoben werden.
Hoffnung weckt die steigende Zahl an Initiativen zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Favelas. Mit ihnen erhalten die Bewohner nicht nur die Möglichkeit, sich gegenüber der Außenwelt positiv darzustellen. Die Initiativen von staatlicher wie nichtstaatlicher Seite signalisieren Anerkennung, erhöhen die öffentliche Aufmerksamkeit und fördern einen differenzierten Blick auf die Favelas. Nur so kann die diskriminierende öffentliche Meinung verändert werden, die auch die gravierenden Ungerechtigkeiten im Straf- und Justizwesen als legitim erscheinen lässt
© and props to Veronika Deffner
http://www.dandc.eu
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